Balthazars kleiner Hund

Cathédrale_Notre-Dame_façade_nord_Strasbourg_3 Der Zug der Heiligen Drei Könige, am Nord-Portal des Münsters (St.-Lorenz-Portal), Anfang des 16. Jahrhunderts, mit modernen Kopien.

Der heilige Matthäus ist der einzige der vier Evangelisten, der die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland erwähnt, um dem König der Juden in Bethlehem zu huldigen (2:1-12). Im dritten Jahrhundert ist es eine Selbstverständlichkeit: Sie sind Könige, sie sind drei, sie verkörpern sowohl die drei Zeitalter des Lebens als auch die drei damals bekannten Teile der Welt, Asien, Afrika und Europa. Im achten Jahrhundert tragen sie einen Namen: Melchior, Caspar und Balthazar.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts haben diese hintereinander folgenden Neuschreibungen die Legitimität der Tradition, und als Johann von Aachen das St. Laurentius-Portal des Münsters gestaltete, hatte er wenig Spielraum. Auf der linken Ausschrägung wird der Ehrenplatz einer monumentalen Jungfrau gewidmet, die das Kind auf dem Arm trägt. Das Kind beugt sich vor und interessiert sich für die nächste Figur, einen nacktköpfigen alten Mann, der ein Knie vor sich beugt und seinen Kelch öffnet: Melchior. An seiner Seite, bereit, der Reihe nach zu huldigen, auf Christus hindeutend, sieht man Caspar, den Magier in gesetztem Alter. Und letztendlich nimmt der jüngste der drei, Balthazar, der durch seine Gesichtszügen erkennbare Maure, als Zeichen der Ehrerbietung seinen Hut ab. Hinter ihm, kaum sichtbar denn ein wenig abseits, wartet einer seiner Gefolgsleute.

All diese Skulpturen bilden einen echten Festzug: die Heiligen Drei Könige kreisen um den Pfeiler und treten vor Maria auf, um ihren Sohn anzubeten und ihm ihre reichen Opfergaben zu überreichen. Sie agieren, sie bewegen sich, sie rühren und gehen über die Zwänge des architektonischen Rahmens hinaus, keiner von ihnen beschränkt sich auf die Grenzen seiner Ausschrägung. Sie lösen sich von der Körpermasse des Münsters ab und durchdringen den städtischen Raum, denjenigen des Zuschauers. Der ruhende Diener, bescheiden gekleidet, scheint den Vorbeigehenden, die von der rue des Frères ankommen, das Ende der Reise anzuzeigen. Balthazar und Caspar ihrerseits wenden sich an diejenigen, die von der rue du Dôme ankommen: der Erste lädt sie ein, sich zu entdecken, indem sie ihren Hut abnehmen, der Zweite weist auf Christus, der angebetet werden soll. Er beginnt bereits mit seiner Kniebeuge, welche Melchior, auf noch bescheidener Weise, vollendet indem er den Kelch seiner Opfergabe öffnet. Wir nehmen unsererseits an der Karawane der Könige teil und wenden uns an die Jungfrau Maria, um deren Sohn anzubeten. Aber hier ist es nicht Maria, die demütige Magd, die dargestellt wird: sie trägt die schwere Krone der Himmelskönigin. Sie ist die Braut/Kirche. Lasst uns nun das Münster betreten, dessen Schutzpatronin sie ist, und an der Verehrung teilnehmen.

Dieser Wunsch, den Zuschauer in das Werk selbst zu integrieren, als wäre er in einem heiligen Theater, zeugt von einem neuen Glauben. Die feierlichen, zeitlosen Bildnisse vergangener Jahrhunderte scheinen weit entfernt zu sein: hier sind nämlich die Gesichter ausgehöhlt, gezeichnet, ausdrucksstark. Sie rufen unmittelbare Nähe und Einfühlungsvermögen hervor. 1500 konnten die Leute sogar deren Kleidung, Schmuck und Kostbarkeiten erkennen. Sie sind weniger beeindruckt von den großen Mysterien, die fern und undurchdringlich sind, als von der gemeinsamen Erfahrung, von der Nähe – dem Menschlichen in der Tat. Auch wenn Italien es brillant ausgedrückt hat, so ist nun ganz Europa von dieser breiten kulturellen Bewegung, welche die Historiker als Humanismus bezeichnet haben, berührt. Die Architektur ist stimmig: die geradlinigen Fassaden, welche klare Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen markierten, werden durch spitzenartige Erker, durchbrochene Brüstungen, zerbrechliche Vordächer ersetzt; die Wand verblasst und wird mit feinen Stickereien bedeckt. Die Architekten werden zu solcher Virtuosität gedrängt, daß die Wand ihre Konsistenz zu verlieren scheint und unglaubwürdig, unwirklich zu werden scheint: durch welche Kraft hält dieser über das Portal gekippte Baldachin noch? Die Grenzen verschwimmen, das Äußere und das Innere durchdringen sich; aber je näher man der Kirchentür kommt, desto mehr verblassen diese Zeichen. Vor allem wird das Kostüm weniger vertraut, also feierlicher; die Architektur wird starrer, die Tür selbst ist ein strenges Rechteck ohne viel Phantasie.

0016983a Balthazar, Originalstatue von Johannes von Aachen – Straßburg, Musée de l\’Œuvre Notre-Dame.

Eine winzige Kleinigkeit, die auf den ersten Blick vernachlässigbar erscheinen mag, drückt dieses neue religiöse Gefühl in konzentrierter Form aus. Zu Balthazars Füßen, versteckt in den Falten seines Fells, ruft uns ein kleiner Hund mit neugierigem Blick zu, der selbst ein wenig überrascht ist, so hoch oben zu sein. Er bringt ein Lächeln in eine sehr feierliche Rede, bricht die Distanz sowohl mit der Kunst – diese Männer aus Stein sähen fast wie fleischliche Menschen aus – als auch mit dem Religiösen – sie nehmen an unserem täglichen Leben teil, so daß wir dann an ihrer Heiligkeit teilhaben. Ein diskretes Augenzwinkern ist oft der beste Weg, um eine stillschweigende Billigung zu erzeugen…

Julien LOUIS
Übersetzung : Francis KLAKOCER
Ill. : Chabe01 / CC BY-SA / © BACHER ; FUSSLER ; Musées de Strasbourg.

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