Skandal in Straßburg: Es wurde nachts auf dem Münsterturm gesungen !

Straßburger Neueste Nachrichten, 7. September 1891

„Nach allgemeiner Annahme soll die böse Geisterstunde mit dem Schlage Eins ihr Ende erreicht haben. In der verflossenen Nacht ward jedoch eine Ausnahme von diesem Gesetze der Geister gemacht und wer etwa um halb zwei Uhr Nachts den heimischen Penaten zustrebte und den Münster oder Schloßplatz passirte, dem ward ein Ohrenschmaus zutheil, der von Geistern herzurühren schien, denn  hoch oben vom Münsterthurme scholl ein Singen herunter, das gar sonderbar dem tief unten Wandelnden erschien. Wer aber anhielt um irgendeine Zauberformel zu erhaschen, der wurde in dieser Beziehung gewiß enttäuscht, denn es waren bekannte Deutsche Lieder, welche dort erklangen. Nach dem Liede von der wunderschönen Stadt Straßburg, wurde des Waldes, der immer noch „dadroben“ steht, gedacht und das Singen klang aus in dem elegischen Neßler’schen „Behüt’ dich Gott“. Gar wehmüthig tönte es also zum Schlusse herunter und gar wehmüthig werden wohl die Sänger darein schauen, wenn die hl. Hermandad ihrer habhaft sein wird. Ein „ungebührlich Singen“ kann streng geahndet werden.“    

Dieser Bericht ist in mehr als einer Hinsicht interessant.

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Des chanteurs à Strasbourg en 1856 (gravure de Lallemand, L’Illustration).

Der Journalist erscheint darin als ein kultivierter Redakteur mit einem humorvollen Schreibstil. Er verwendet einen etwa hochgestochenen Stil, indem er beispielsweise den Begriff Penaten anstelle des ehelichen Heims oder den Ausdruck die hl. Hermandad verwendet. Außerdem basiert sein vorletzter Satz auf einem Überraschungseffekt über die Wehmut. Er bedient sich einer gewissen Bildung, die sogar den Bereich des Rechts abzudecken scheint. Der in Anführungszeichen in der letzten Zeile verwendete Ausdruck bezieht sich auf eine Realität, die zu seiner Zeit gut bekannt war. Zum Beispiel wurde in Augsburg bereits 1759 jungen Menschen beider Geschlechts verboten, sich in unangemessener Weise an nächtlichen Treiben wie Rennen, Jodeln und Singen zu beteiligen, was mit einer Geldstrafe oder sogar einer Gefängnisstrafe geahndet wurde.

Sein Text ist auch eine kulturelle Momentaufnahme von Straßburg. 1891 war das annektierte Elsass Teil des Deutschen Reiches, und in Straßburg, wie überall auch, war Deutsch die Kultursprache. Der Artikel ist also in deutscher Sprache verfasst, und der Journalist kennt die deutschen Lieder, die vom Münster herab gesungen wurden. Dass er mit Anspielungen vorgeht und einen Ausdruck aus einem Lied zitiert, ist das ein Beweis dafür, dass seine Leser ihm folgen können, da sie die gleichen kulturellen Bezüge haben. Diese Lieder sind ebenso aufschlussreich für das, was damals Mode war: deutsche Volkslieder. Ob schon etwas veraltet oder erst kürzlich entstanden, sie sind alle Teil der (prä-)romantischen Literatur, welche Natur, Liebe und Heimat besingt.

Des Weiteren interessiert uns diese Nachrichtmeldung auch, weil sie Johann Knauth betrifft. Der bekannte, in Köln geborene Architekt, zog 1891 nach Straßburg, wo er bei der Fondation de l\’Œuvre Notre-Dame arbeitete. Der Artikel erwähnt ihn zwar nicht, aber die Akten, die nach diesem unzeitgemäßen Ereignis zusammengestellt wurden, lassen keinen Zweifel: Er war tatsächlich derjenige, der sich im ersten Jahr seines Aufenthalts und im Alter von 27 Jahren diesem Gesangskonzert hoch oben auf dem Münster mit anderen fröhlichen Gesellen hingab. Dies erklärt auch die Auswahl der Lieder in deutscher Sprache. Diese Jungenstreich wurde allerdings nicht auf die leichte Schulter genommen. Das Bürgermeisteramt schrieb der städtischen Baupolizei einen Brief, und erhielt eine Antwort, woraufhin ersteres nun einen Brief an den Leiter der kaiserlichen Polizei abschickte mit der Bitte, eine Geldstrafe gegen besagte Sänger zu verhängen. Man mag sich fragen, wie Knauth es fertigbrachte, zu einer solchen nächtlichen Stunde auf die Plattform zu gelangen. Wir können davon ausgehen, dass es ein Leichtes für ihn als Architekt der Frauenwerkstiftung war, der Schlüssel habhaft zu werden. Wie dem auch sei, diese Geschichte enthüllt eine bisher recht unbekannte Facette der Persönlichkeit des Menschen, den man Jahre später für den Retter des Münsters halten wird…

Zu guter Letzt können wir noch darauf hinweisen, dass das Münster bei seinen Liebhabern nach wie vor einige (nächtliche) Berufungen weckt. Man lese beispielsweise diesen Kurzbericht (auf Französisch), um sich davon zu überzeugen. 

Es ist ja allgemein bekannt: Nil novi sub sole…

Text: Francis Klakocer
Nachgelesen von Stéphanie Wintzerith

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