J.-M. Leniaud, Der Vierungsturm der Kathedrale Notre-Dame von Paris

Am 21. Mai 2025 hielt Jean-Michel Leniaud, zurzeit Präsident des Vereins der Freunde von Notre Dame, den letzten Vortrag der Saison. Er wurde im Rahmen einer Erweiterung der Themenbereiche der Vortragsreihe eingeladen, wo einmal im Jahr ein Thema vorgestellt werden soll, das über das Straßburger Münster hinausgeht.

“Vue panoramique de Paris. L’Ile de la Cité et Notre-Dame”. Anonyme. Photographie. Paris, musée Carnavalet.

Zu Beginn betonte Leniaud die Bedeutung des Vierungsturms von Notre Dame in historischer und emotionaler Hinsicht. Der Einsturz des gemeinhin nach dem Architekten Viollet-le-Duc benannten Turms während des Brands von 2019 stand symbolisch für die Beschädigung und Gefährdung der gesamten, die Stadt Paris und das Land repräsentierenden Kathedrale.

Der Vortrag gliederte sich in drei thematische Teile. Zunächst ging es um die kulturhistorische Bedeutung eines Turmbaus an sich. Von alters her wird ein solches Vorhaben ambivalent bewertet. Ein Mensch, der sich erdreistet, selbstverliebt und im Streben nach Ruhm Höhenrekorde aufzustellen, steht nicht erst seit der biblischen Geschichte vom ‘Jäger’ Nimrod mit seinem Turmbau zu Babel im Verdacht der Gotteslästerung. Bis ins 20. Jahrhundert hinein findet sich dieses Thema auch in der Literatur. Leniaud verwies detailliert auf den Roman « Der Turm der Kathedrale » (« The Spire », 1964, dt. 1966) des britischen Nobelpreisträgers William Golding, in dem Megalomanie und moralischer Verfall zur Katastrophe führen. Auch Wladimir Tatlin bezieht sich mit seinem Entwurf eines dynamischen Spiralturms zu Ehren der 3. Internationale (1919-20) explizit auf den Turmbau zu Babel. Die psychoanalytische Tradition nach C.G. Jung bestätigt diese Interpretation der Turmbauten.

Im zweiten Teil des Vortrags ging es um die Baugeschichte des Vierungsturms von Notre Dame im historischen Kontext des zweiten französischen Kaiserreichs. Der aus dem 13. Jahrhundert stammende, erste Vierungsturm wurde wegen Baufälligkeit ab 1793 abgetragen. Bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein lief die Debatte um einen Wiederaufbau. In den 40er Jahren bewilligte das Parlament keinen Kredit für eine Wiederherstellung nach dem ursprünglichen Vorbild, das ohnehin nur sehr schlecht bekannt war. Später bezogen weder Napoleon der Dritte noch der Präfekt Haussmann den Vierungsturm in ihre Überlegungen mit ein. Der Kaiser setzte sich zwar zum Ziel, Paris zu einer neuen Hauptstadt des Katholizismus zu machen, doch es war Viollet-le-Duc, der die Restaurierung des Turms als eine ästhetische Notwendigkeit betrachtete. Er leistete beharrliche Überzeugungsarbeit, so dass ein neuer Kredit bewilligt wurde. Leniaud betont in diesem Zusammenhang, dass Napoleon der Dritte mit den Arbeiten an Notre Dame auch den konservativen Flügel der katholischen Kreise in Frankreich beschwichtigen wollte, da er die politische Vereinigung Italiens gegen den Willen des Papstes unterstützte.

Die Wiedererrichtung eines Vierungsturms in der neugotischen Formensprache des 19. Jahrhunderts, sehr viel höher als im ursprünglichen Projekt aus den 40er Jahren vorgesehen, war nur ein kleiner Teil der gigantischen Bauarbeiten dieser Epoche. Paris sollte zur modernsten Stadt der Welt werden. Die Stadt feierte sich selbst in den Weltausstellungen von 1855 und 1867. Eines der Themen dieser internationalen Ereignisse war die Förderung des Wiederauflebens der handwerklichen Künste und deren spektakuläre Weiterentwicklung durch die Möglichkeiten der modernen Industrie.

Der dritte Teil des Vortrags beschäftigte sich dementsprechend mit der Rolle des Unternehmers Auguste Bellu bei der konkreten Durchführung des Bauvorhabens. Bellus Firma war im Gerüstbau spezialisiert. Sie hatte nicht nur andere Türme (in Orléans unter dem Architekten Boeswillwald, und auf der Sainte Chapelle) errichtet, sondern trug binnen zweier Jahre mit dem Bau des Vierungsturms von Notre Dame und gleichzeitig mit der Versetzung des riesigen Brunnenbeckens auf dem Place du Châtelet um 15 m sowie mit der Errichtung der beiden Theater auf demselben Platz substanziell zu der urbanistischen Erneuerung im Stadtzentrum von Paris bei. Bellu lieferte für den Vierungsturm von Notre Dame die erste Zeichnung, die von Viollet-le-Duc dann kopiert wurde. Er entstammte einem Milieu von Architekten und Ingenieuren fortschrittlicher Gesinnung, zumeist Freimaurern, die die Handwerkstradition im Rahmen der Gesellenbruderschaften (‚compagnonnage‘) hochhielten. Stolz ließ Bellu im Innern ‘seiner’ Türme in diesem Sinne Gedenktafeln anbringen, so auch in Notre Dame am Fuß der hölzernen Treppe, die in den Turm führte. Sie bleib beim Brand erhalten, aber Viollet-le-Duc gilt ungerechterweise weiterhin und seit Erbauung des Turms als ihr alleiniger Schöpfer. Leniaud betont, dass weiterhin nicht bekannt ist, wer die Idee zu der originellen Aufstellung der Apostelfiguren hatte.

Nach dem Tod von Auguste Bellu, sehr kurz nach den äußerst aufreibenden Arbeiten von 1859 und 1860, wurde seine Firma wohl aufgelöst. Jean-Michel Leniaud beschließt seinen Vortrag mit dem seiner Meinung nach plausiblen Gedanken, dass das Fachwissen der zahlreichen Mitarbeiter den Metallbauten zugutekam, die in der Folge in Paris errichtet wurden, bis hin zum Eiffelturm.

Sabine Mohr

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