Im übervoll besetzten Münsterhof fand am 12. November der Vortrag von Michel Pastoureau statt – gemäß der Idee, dass jedes Jahr einer der Vorträge einem Thema gewidmet sein solle, das über das Straßburger Münster hinausgeht. Die Erklärungen des Redners holten weiter aus, als sein selbst gesteckter Zeitrahmen erwarten liess und begannen mit der Diskussion um die – intensive – Farbigkeit der griechischen Tempel und Skulpturen: die falsche Vorstellung von einem ‚weißen Griechenland‘ hielt sich deshalb so lang, weil die griechischen Bildhauerwerke weitestgehend nur durch die römischen, seit dem 16. Jahrhundert in Italien gefundenen Kopien bekannt waren. Diese waren in der Tat nicht farbig gefasst, weil die Römer deren Farbigkeit ablehnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde diese Frage in der Fachwelt der Altertumswissenschaftler intensiv diskutiert, und trotz archäologischer Funde nur langsam entschieden. Das Dogma der Natursteinfarbigkeit der Kathedralen ist ähnlich gelagert, und noch 1937 publizierte Le Corbusier sein Buch mit dem Titel „Als die Kathedralen weiß waren“.

Doch die heute bekannten Spuren von Polychromie belegen, dass kirchliche Bauwerke seit der karolingischen Zeit bis ins 14. Jahrhundert hinein weitgehend innen und außen farbig bemalt waren. Das betraf sowohl kleine Dorfpfarrkirchen als auch große Pilgerkirchen wie die romanische Abteikirche von Conques, deren Tympanon zahlreiche Reste von Polychromie aufweist. An diesem Beispiel wirft Pastoureau die Frage auf, inwiefern heutige Interpretationen, die diese Polychromie ignorieren, berechtigt sind. Denn die Farben hatten für die Klarheit der Strukturierung, für die ‚Lesbarkeit‘ der skulptural dargestellten Szenen eine grundlegende Bedeutung. Allerdings besteht in den meisten Fällen Unklarheit über die Datierung der Polychromie, die wohl im Laufe der Jahrhunderte oft erneuert wurde, manchmal originalgetreu und manchmal innovativ. Zu dieser Frage geben die Archive meistens keine Antworten. Man kann nur die Überlagerung der verschiedenen Pigmentschichten feststellen, also nur eine relative Chronologie etablieren. Auffällig ist allerdings, dass die Maler, die mit der polychromen Fassung von Skulpturen und Architektur befasst waren, vom Beginn der gotischen Periode an bis ins 16. Jahrhundert hinein besser bezahlt wurden als die Bildhauer. Was eben diesen finanziellen Aspekt angeht, stellt Pastoureau das Beispiel der Kathedrale von Lausanne vor, an deren Restaurierung in den 1980er Jahren er beteiligt war. Aus der Konkurrenzsituation zwischen dem Bischof, dem Domkapitel, dem Dekan des Domkapitels – dem wichtigsten und überlegenen Gegenspieler des Bischofs – und den Bürgern der Stadt ergab sich, dass zur Herstellung der Polychromie an der Kathedrale enorme Mittel aufgewendet wurden, da alle Parteien einander übertrumpfen wollten: noch heute finden sich Spuren von Blattgold und Lapislazuli.
Pastoureau betont ein grundsätzliches Problem bei der historischen Analyse der Verwendung von Farben: seit der Antike und bis ins 17. Jahrhundert, also bis zu der neuen Farbenskala von Newton, die dem Regenbogen entspricht, wie wir ihn heute wahrnehmen, waren die Farben anders gruppiert. Rot und Blau galten als warme Farben, Grün und Gelb ‚waren‘ kalt. Grün stand neben Rot im Zentrum der Skala, Violett war fast unbekannt, Weiß und Schwarz den anderen Farben noch ebenbürtig. Die Wissenschaft zum Thema Farben hat große Fortschritte gemacht, doch ist es legitim, die Ergebnisse der neueren Forschungen auf Kunstwerke anzuwenden, die einer Zeit entstammen, in der man die Farben anders ‚sah‘ und besprach? Welche Terminologie sollte man verwenden?
Pastoureau zeigt zahlreiche Beispiele von Polychromie an Bauwerken, die möglicherweise noch in ihrer originalen Farbigkeit erhalten sind, und andere wie die Kirche von Issoire, die man im 19. Jahrhundert neugotisch ausgemalt hat. Er weist darauf hin, dass die Eigenfarbe und -strukturierung von Baugestein im Mittelalter nicht als Polychromie galt, sondern übermalt war. So z.B. auch die heute schwarz-weiße Fassade der Kathedrale von Siena. Ein herausragendes Beispiel originaler Farbigkeit sind die Malereien der Holzdecke von Zillis in der Schweiz, aus den Jahren 1120-25, in der Zeit der Reformation übertüncht, aber sehr gut erhalten.
Ein anderes grundlegendes Problem der heutigen Wahrnehmung von Farbigkeit im Vergleich zu früheren Zeiten ist die Ausleuchtung der Kirchenräume. Deren Innenbemalung war auf Kerzenlicht, flackerndes Licht von Flammen ausgelegt. So ist die Restaurierung der Fresken der Sixtinischen Kapelle, bei der eine sehr intensive, gesättigte Farbigkeit zum Vorschein kam, zwar wissenschaftlich belegt, doch die Menschen des 16. Jahrhunderts nahmen diese Fresken ganz anders wahr, weil sie anders beleuchtet waren. Tageslicht verändert sich noch dazu im Laufe des Tages ständig, sodass immer neue Eindrücke entstehen, im Gegensatz zu den heutigen künstlichen Lichtern. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es technisch nicht möglich, große Flächen homogen zu beleuchten.
Farbe spielt nicht nur in und am Bau eine Rolle. Seit Ende das 11. Jahrhunderts fand zwischen den traditionellen Benediktinern von Cluny und dem Reformorden der Zisterzienser eine Debatte statt, bei der es auch um die Farbe der Gewänder der Mönche ging: Abt Peter von Cluny warf dem Hl. Bernhard von Clairvaux vor, die weiße Farbe der Kutten drücke Überheblichkeit aus. Woraufhin Bernhard das Schwarz der Benediktinerkutten als Farbe des Teufels verdammt. Es ging um die Stellung von Farbe allgemein. Für die Zisterzienser ist Farbe Materie, also unwürdig. Eine Haltung, die sich auf die Bauwerke auswirkt: es gibt keine Polychromie und keine bunten Fenster. Ganz im Gegensatz zu dem Abt Suger von Saint-Denis, für den Gott Licht ist, der das Dunkel – das Böse – vertreibt, und für den Farbe also göttlich ist. Weshalb beim Neubau der Abteikirche um das Jahr 1140 überall Farben verwendet werden. Aus Deutschland lässt er ein besonderes blaues Glas kommen, das man in Frankreich später ‚Bleu de Chartres‘ nennt, wo es doch eigentlich ‚Bleu de Saint-Denis‘ heißen sollte. Es gilt als göttliche Farbe schlechthin, doch erst im 15. Jahrhundert löst es Rot als wichtigste Farbe ab. Eigentlich gibt es zwei verschiedene Blautöne in Chartres: das Blau des 12. Jahrhunderts, das milchiger ist als das gesättigte Blau des 13. Jahrhunderts. Von da an beginnt die große Zeit der farbigen Glasmalerei. Heute gibt es auch in diesem Bereich Unsicherheiten: einerseits verschmutzen die Gläser und verlieren ihre Strahlkraft, andererseits verursachen Restaurierungen eine zu starke Intensität und Uniformität der Farbe. Ohnehin sind die meisten Glasfenster zu nur geringen Teilen noch in ihrer Originalsubstanz erhalten. Für Augsburg z.B. beläuft sie sich auf ca. 5 Prozent.
Was die Themen der Darstellungen angeht, findet man ab dem 13. Jahrhundert neben christlicher Ikonografie auch profane, u.a. heraldische Inhalte, die von der Kirche anfänglich abgelehnt wurden. Doch insgesamt sind etwa ein Drittel die Wappen kirchlicher Würdenträger. Anlass für diese Darstellungen sind Schenkungen, deren Urheber sich verewigen wollten.
Neben den bunten Glasfenstern findet man in den Kirchen eine beträchtliche Anzahl von farbig gefassten Gegenständen wie z.B. der hölzerne Esel, der in der Sakristei aufbewahrt wird und an Palmsonntag zum Einsatz kommt. In den Schatzkammern der Kathedralen gibt es bunt bemalte Elfenbeinschnitzereien. Auch bei diesen Gegenständen ist die Originalfarbigkeit oft ungeklärt.
Für die liturgischen Gewänder hat die Kirche ein System erfunden, dass sich durch Jahrhunderte hindurch entwickelte. Seit der Merowingerzeit war das Messgewand oft weiß, doch bis zum Ende des 12. Jahrhunderts gab es keine einheitliche Praxis. Dann verfasste Papst Innozenz der Dritte eine Schrift zu den Farben der liturgischen Gewänder in der Diözese Rom. Diese Regelungen setzten sich ab dem 13. Jahrhundert in allen römisch-katholischen Diözesen durch. Schließlich entstand im Laufe des 15. Jahrhunderts das heutige System, in dem jede der vier Farben einer Zeit im liturgischen Jahr entspricht. Weder Blau noch Gelb werden dabei verwendet. Viele Schriften im selben Jahrhundert beklagen den Prunk der Prälaten, der der Genügsamkeit der Bettelorden gegenübergestellt wird. Besonders die Franziskaner mit der Figur des ‚grauen‘ Franz von Assisi (dessen weißes Gewand nicht gewaschen und deshalb grau wurde) erscheinen als Gegenentwurf zu diesen farbenfrohen Tendenzen. Schließlich theorisieren die Reformatoren die sogenannten ‚ehrlichen‘ Farben Weiß, Schwarz, Grau, und Blau bei Calvin. Wurde man in Genf in dieser Zeit in einem roten Gewand entdeckt, endete man auf dem Schafott. Rot war die Farbe der Papisten, also des Teufels. Die Gegenreformation ist eine Gegenbewegung auch auf dem Gebiet der Farben, mit ihrem überschwänglichen Gebrauch von Gold und Polychromie.
Soweit der Vortrag. Die anschließenden Fragen aus dem Publikum gaben Michel Pastoureau Gelegenheit zur Vertiefung einiger Punkte. Es ging um Blau als Lieblingsfarbe der Franzosen: für Aristoteles war Blau noch keine richtige Farbe. Die Logik der Antike beruht auf den Gegenpolen Hell und Dunkel. Darin hat Blau keinen Platz, ebenso wenig wie Violett. Es gibt auch keine lateinische Sprachwurzel für Blau. Es ist das germanische Blau, das in die lateinischen Sprachen übernommen wurde. Die Farbe wird erst gegen Ende des Mittelalters als solche angesehen, und von da ab sind Rot und Blau abwechselnd die vorherrschenden Farben. Blau dominiert in Umfragen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wie im restlichen Westeuropa.
Dann kam nochmals die Kleidermoral zur Sprache: auch die Gegenreformation vertrat die Idee, dass der ‚ehrliche‘ Gläubige keine auffällige Kleidung tragen sollte. Schon deshalb nicht, weil der Sündenfall dazu geführt hat, dass Menschen sich überhaupt bekleiden müssen. Die in Bildwerken jeder Art, z.B. auch in der Buchmalerei dargestellt Kleidung ist wohl zum Teil imaginärer Art.
Zum Thema Regenbogen und Rangordnung der Farben konnte man die erstaunliche Tatsache erfahren, dass unter den Hunderten von Darstellungen des Regenbogens im Mittelalter keine unserer heutigen Sicht entspricht.
In der Heraldik schließlich gibt es keine Präferenzen für diese oder jene Farbe, zwischen den südeuropäischen und den nordeuropäischen Ländern, also dem germanischen Raum. Das Abendland bildet eine heraldische Einheit und unterscheidet sich insgesamt von Byzanz und dem islamischen Einflussbereich. Unterschiede sind regional und lokal abhängig vom jeweiligen Fürsten mit seinen heraldischen Farben, die nachgeahmt wurden.
Sabine Mohr
